Nicole Althaus
MailKontakt
Die Kinderlein kommen – FACTS 7. April 2005
FACTS 14/2005 
Text: Nicole Althaus
Fotos: Alexander Jacquement
Download PDF Originalartikel

«Die Kinderlein kommen»

Überall in der Schweiz sinkt und sinkt die Geburtenrate. Aber in einem kleinen Dorf in Graubünden vermehren sich die Bewohner, als wollten sie das Land vor dem Aussterben retten. Wie kann man nur so verrückt sein?

Allein schon den Namen kann sich der Unterländer nicht merken: eine Anhäufung sperriger Konsonanten, Tumegl/Tomils, abgeleitet vom lateinischen Tumbiculus, Hügelchen. Auch der Ort selbst ist nicht über die Verkleinerungsform hinausgewachsen: 354 Einwohner, das einzige Geschäft am Eingang des Ortes, die Kirche etwas erhöht am Ende, dazwischen eine Mehrzweckhalle, ein neues Schulhaus und ein altes, ein Spielplatz und das Gasthaus «Cafluri», seit zwei Jahren geschlossen. Tumegl/Tomils, Postleitzahl 7418, Kanton Graubünden, ist ein Kaff. Eigentlich zum Vergessen. Nichts deutet darauf hin, dass in diesen paar Dutzend Häusern, die sich auf 810 Meter Höhe in die Flanken der Stätzerhornkette krallen, die Frauen fast doppelt so viele Babys bekommen wie die Schweizerin im Landesschnitt. Das soll der Jungbrunnen der Schweiz sein?

Dann: Mit einem Knall fliegen die Schulhaustüren auf, eine schreiende Kinderschar ergiesst sich auf den Hof, nimmt die Strassen in Beschlag, erstickt den Lärm der nahen Schreinerei und das Schrillen der Pausenglocken. Zehn Minuten nur, und man weiss: In Tomils kommen Kinder nicht nur in homöopathischer Dosis vor, sondern in geballter Ladung.

Wie vor dem Pillenknick

Herbert Rosenkranz, 55, einer der beiden Lehrer im Dorf, ist ein glücklicher Mensch. Er muss in den nächsten paar Jahren nicht um seine Arbeitsstelle bangen. Er weiss, dass es für eine Gemeinde dieser Grösse alles andere als selbstverständlich ist, genügend Nachwuchs hervorzubringen, um einen Kindergarten zu füllen und zwei Gesamtschulklassen. Doch dass dies reicht, um einen amtlich beglaubigten Fruchtbarkeitsrekord hinzulegen, hat der Lehrer nicht gewusst. Er, der seit 30 Jahren im Dorf unterrichtet und nicht selten schon den Vater oder die Mutter seiner heutigen Zöglinge aufs Leben vorbereitet hat, ist nicht gewohnt, eine Antwort schuldig zu bleiben, also sagt er: «In Tomils lebt es sich eben gut. »

Zugegeben: Meteorologisch gesehen geniessen die Tomilser die Sonnenseite des Lebens. Der Frühling kommt auf diesem nach Süden geneigten Schräghang früher, der Winter später als anderswo; die jährliche Niederschlagsmenge ist mit 854 Millimetern gering und der Tomilser nicht ganz frei von Schadenfreude, wenn er an der Sonne sitzt, während es «doba», im 15 Kilometer entfernten Thusis, regnet und 20 Kilometer weiter «dunna», in Chur, die Wolken tief hängen. Doch genügen 300 Sonnentage im Jahr und ein Autobahnanschluss in der Nähe tatsächlich, um ein Geburtenregister hervorzubringen, das sich liest wie vor dem Pillenknick?

Rosenkranz ist braun gebrannt, was für Tomilser wegen der klimatischen Vorzüge typisch ist, und vierfacher Vater, was unter Tomilsern auch nicht weiter auffällt. Er trägt sein Haar kurz geschoren, einen weissen Vollbart im Gesicht und einen beflissenen Zug um den Mund: «Es herrschen hier keine paradiesischen Zustände - aber alles ist in der Nähe: die Ski- und Wandergebiete, die Arbeitsplätze in Ems, Chur und Thusis. » Und noch während man sich überlegt, ob das Walliser Rhonetal nicht über dieselben Vorzüge verfügt, ohne dass deren Bewohnerinnen durch besondere Gebärlust auffallen, schiebt er nach: «Kinder haben in unserem Leben noch Platz. » Und das meint Lehrer Rosenkranz durchaus doppeldeutig.

Neue Bauten für den Nachwuchs

Wie viel Platz die Tomilser ihrem Nachwuchs einräumen, zeigen die Bauvorhaben der letzten zehn Jahre: das neue Schulhaus, mit dem tennisplatzgrossen Pausenhof, das Mehrzweckgebäude mit Turnhalle, der Spielplatz daneben, der geplante Hartplatz dahinter und das Quartier Sogn Murezi, das vor kurzem erst aus dem Boden gestampft wurde und wo nun grosszügige Wohnhäuser stehen, vor deren Türen sich Schlitten, Velos, Schaufeln und Kinderwagen türmen.  Welcher Stellenwert der Nachwuchs im Leben der Tomilser einnimmt, zeigt ein altes Schulheft, das der Lehrer - er führt auch die Einwohnerkontrolle - dem Aktenschrank im Lehrerzimmer entnimmt. Darin sind seit 1910 in nicht immer leserlicher, auf den letzten Seiten aber mit einer wandtafelgeschulten Schnürlischrift säuberlich eingetragen: die Geburten von Tomils und die Todesfälle.

Dieses abgegriffene, fleckige Schulheft enthüllt eine kleine Sensation: Während seit 1980 landesweit mehr Schweizer sterben als geboren werden, verzeichnet Tomils in exakt demselben Zeitraum einen Geburtenüberschuss: Im Durchschnitt sind in den letzten zwanzig Jahren kaum zwei Monate verstrichen, in denen nicht ein neuer Tomilser geboren wurde. Jeder dritte Tomilser ist heute jünger als 20, nur jeder zehnte älter als 65. Würde ein Computer diese Daten grafisch darstellen, käme eine Alterspyramide heraus, die diesen Namen noch verdiente: die Basis mit den Kindern breit, die nächste Stufe mit den Jugendlichen etwas schmäler, alle weiteren Altersgruppen sich zu einer Spitze verjüngend. Eine Alterspyramide, wie sie die Demografen für die Eidgenossenschaft in den Fünfzigerjahren letztmals zeichnen durften.

Herrschten schweizweit Tomilser Zustände: Die Generationen-Erneuerung wäre gewährleistet, die AHV gesichert.

Wenn Tomilser Kinder von ihren Familienverhältnissen reden, dann tönt das so, als erinnerten sich die Grosseltern des Unterlandes an ihre eigene Kindheit.

«Ich habe drei kleine Brüder. »  «Ich einen Bruder und vier Schwestern. »  «Ich habe nur einen kleinen Bruder, und das reicht. »

Gibt es in eurer Klasse Einzelkinder?

«Einzelkinder? »

«Das sind Kinder die nichts haben, du Depp. Keinen Bruder, keine Schwester. »

Keinem der Kinder fällt ein Name ein. Der Tomilser, sagt der Tomilser über sich selber, ist an sich ein ganz normaler Schweizer. Er freut sich, wenn er sich ein Eigenheim leisten kann, eine Freude, die man in Tomils eher bezahlen kann als anderswo; und er ärgert sich über den Steuerfuss, der in Tomils bei 120 Prozent liegt; höher als in den Nachbargemeinden. Doch in einem unterscheidet sich der Tomilser von seinen Zeitgenossen fundamental: Er hat sich sein Leben noch nicht ohne Kinder eingerichtet. Der Tomilser, das sagen Auswärtige deswegen etwas herablassend, könne abends in seinem Kaff auch gar nichts anderes machen als Kinder. Kinder aus Langeweile. Andere Argumente für die stupende Gebärfreudigkeit fallen den Fremden nicht ein. Denn die Kindervergessenheit in der Schweiz ist so weit verbreitet, dass man sich nur mehr wundern kann über Menschen wie den Tomilser, der lieber auf ein zweites Auto verzichtet als auf ein drittes Baby; dem das Wort «Kind» nicht eine Klette am Bein bedeutet, sondern Sinn und Glück; dem eine neue Turnhalle für das Leibeswohl des Nachwuchses wichtiger erscheint als eine Steuersenkung.

Auch Philippe Wanner, 41, kinderlos, wundert sich über die Tomilser. Er hat zwar in seinem Leben noch keinen Fuss in dieses Dorf gesetzt, aber als Demograf interessiert er sich für den mit 2,7 Kindern pro Frau geburtenstärksten Bezirk Hinterrhein, zu dem Tomils gehört. Sein Schreibtisch steht im Neuenburger Forum für Migrations- und Bevölkerungsstudien, dort hat er seine Studie «Fruchtbarkeit in den Schweizer Gemeinden 1970-2000» erarbeitet. Wanner hat sämtliche Daten der letzten vier Volkszählungen gewälzt und eine Antwort auf die Frage gesucht: «Warum gebären Frauen in gewissen Regionen oft? In anderen aber kaum mehr? »

Er ist weit davon entfernt, die Antwort in eine griffige Formel packen zu können: «Für das unterschiedliche Fertilitätsverhalten gibt es wohl keine schlüssige Erklärung. » Und die nahe liegenden decken sich nicht mit den von ihm erhobenen Daten: In ländlichen Gebieten werden heute kaum noch mehr Kinder geboren als in den städtischen. Überall in der Schweiz ziehen junge Familien ins Grüne, ohne dass deshalb die Geburtenrate nach oben schnellt. «Bleibt noch», sagt Wanner, «dass in kinderreichen Gegenden Menschen leben, die früher heiraten, früher Nachwuchs bekommen und sich weniger scheiden lassen. » Katholische Menschen zumeist.

Womöglich glauben die Tomilser einfach mehr an Gott als an die Pille?

Pater Silvio, 64, lacht, sein Lachen füllt das ganze Gesicht, das, wie in Tomils üblich, schon im Frühling von sommerlichem Teint ist, es schüttelt seinen dicken Bauch und bringt die beiden Enden des Zingulums, das er über seiner braunen Kutte trägt, zum Tanzen. «Die Tomilser sind doch nicht von gestern», sagt er dann und verschränkt seine kurzen Arme über der Brust. Früher, ja, vor dem Krieg, als man im Sommer auf dem Feld krampfte und im Winter in einem Engadiner Hotel, da seien zehn, elf Kinder in der Gegend die Norm gewesen. «Aber heute bekommen die Tomilserinnen nur noch so viele Kinder, wie sie wollen. »  Von gestern sind die Tomilser vielleicht nicht, da mag der Pater Recht haben, aber ins Heute passen sie auch nicht wirklich. Denn man muss wissen, dass die Schweizerinnen überall sonst nicht einmal mehr so viele Kinder gebären, wie sie sich laut Umfragen wünschen: nämlich mindestens zwei. Der Kapuzinerpater fuchtelt mit seinen Armen in der Luft, als könnte er damit das Nachwuchstief über der Schweiz verscheuchen. Er ist ein leidenschaftlicher Mensch, einer, um es genauer zu sagen, der das Leben ausserhalb der Klostermauern genauso liebt wie ein gutes Essen, was nicht nur zu seiner schwerfälligen Postur geführt hat, sondern auch zu einigen Konflikten mit der Kirchenobrigkeit: Dass er mit seiner Haushälterin und deren beiden Kindern unter einem Dach lebt zum Beispiel, hat ihm eine Voruntersuchung beim Bischof eingebrockt. Weil der Pater ausserdem den ökumenischen Gedanken mit ungebremstem Elan verfolgt und manchen Katholiken mit einem Ungläubigen verheiratet hat, wäre er beinahe ins Kloster Mels zurück-beordert worden.

Sie kämpfen fürs Übermorgen

Pater Silvio also ist keiner, der die Pille an den Pranger stellt, und man kann ihn sich gut vorstellen, wie er in der Kirche seine kurzen Arme emporhebt und eine Hochzeitsmesse feiert, bei der «auch ein Muslim auf seine Rechnung kommt». Doch mit einem nimmt er es genau: «Wenn sich ein Paar einen Lamborghini wünscht statt Kinder, dann muss es sich den Ehesegen woanders holen. » Denn Kinder», sagt der streitbare Katholik, «Kinder sind nicht nur Sinn und Zweck der Ehe, sie sind unsere Zukunft. » Ein Leben ohne Nachwuchs aber sei schwer, und nun klopft Pater Silvio mit seiner runden kleinen Hand auf die Brust: «Glauben Sie mir, ich kann ein Lied davon singen. » Das sei aber, Gott sei Dank, hier gar nicht nötig. Schliesslich hätten die Tomilser noch nicht verlernt, sich in einem Reigen der Generationen zu verstehen. Der Pater will damit nicht unbedingt sagen, dass die Tomilser gescheiter sind als ihre Landsleute, sondern dass sie näher an den Folgen ihres Tuns oder Lassens sitzen als diese. Aus nächster Nähe können sie beobachten, was passiert, wenn eine Gesellschaft sich ohne Kinder denkt. Manches Dorf im eigenen Kanton hats vorgemacht: Zuerst schliesst der Kindergarten, dann der Laden, und wenn die Schule das Tor zumacht, sind fast alle schon gegangen, die noch gehen können.

Dieses Schicksal soll Tomils nicht ereilen, denn die Tomilser, auch das sagen die Tomilser über sich selber, glauben an ein Morgen und kämpfen für ein Übermorgen. Immer schon. In den letzten paar Jahren kämpften sie um den Standort der Post im Ausserdomleschg und um den Dorfladen, den sie als Genossenschaft weiterführen, seit sich Volg zurückgezogen hat. Sozusagen ständig kämpfen sie um genügend Nachwuchs, damit die Schule im Dorf bleibt.  Kinder sind hier keine Möglichkeit. Sie sind Bedingung. Ein Beweis dafür, dass die Tomilser nicht so schnell klein beigeben, ist die Tatsache, dass sie sich die Hoffnung nicht nehmen lassen, das «Cafluri» geniesse nur einen langen Wirtesonntag und werde seine Türen dereinst wieder öffnen. Noch immer steht der Sonnenschirm auf der Terrasse vor der Beiz und eine Tafel mit dem Hinweis «Restaurant geschlossen».

Ganz zuoberst im Dorf, wo die Strassen eng werden und abschüssig, rast ein Kindergärtler auf seinem Trottinett talwärts, reisst eine Linkskurve in die nächste Quergasse hinein - und lässt sich rückwärts wieder hinunterrollen. Sein kleiner Bruder folgt ihm auf dem Plastikauto, die Mutter beiden mit den Augen.

Renate Rutishauser, 44, war drei Jahre, neun Monate und eine Woche ihres Lebens schwanger. Sie hat fünfmal unter Schmerzen geboren, freiwillig und gerne. Wer, wenn nicht eine Mutter, könnte das Tomilser Geheimnis lüften? Den Sohn aus erster Ehe, Jan, 23, hat sie in Chur grossgezogen, wo sie als Psychiatrieschwester arbeitete. Die anderen vier Kinder - Martin, 6, Nando, 5, Linard, 3, und Lisa, 15 Monate – wachsen in Tomils auf. Sie sagt: «Es ist einfacher, in Tomils vier Kinder grosszuziehen als eines in Chur. »

Ein Dorf zieht Kinder gross

Rutishauser hat blondes Haar und rosige Wangen, die man für Tomilser Verhältnisse als bleich bezeichnen muss. Doch wollte man der Zufriedenheit ein Gesicht geben, es sähe aus wie das der fünffachen Mutter: Augen, die das Lachen zu Schlitzen geformt hat, und ein Mund, dessen Winkel nach oben festgezurrt scheinen. Natürlich sei es hilfreich, sagt Rutishauser, dass sie und ihr Partner sich hier in Tomils ein grosses Haus leisten, dass die Kinder alleine draussen spielen können. Aber das Wichtigste sei: Das Dorf habe sie mit offenen Armen empfangen. «In Tomils sind Kinder kein Störfaktor, sondern Bereicherung. Immer ist jemand da, der hilft, wenn man Hilfe braucht. »

Vielleicht kann der Unterländer den Tomilser Kindersegen nicht verstehen, weil er auf einer Eigenschaft gründet, die kein Soziologe, kein Ökonom, kein Demograf messen kann: Kinderfreundlichkeit. Vielleicht ist er nur deswegen so ratlos, weil man Kinderfreundlichkeit nicht herstellen kann. Diese nämlich zündet eine kritische Masse an Kindern und erzeugt sich fortwährend selbst. Und während man sich in der Restschweiz um den Wirkungsgrad von Kinderzulagen, Kinderkrippen streitet, sitzen die Tomilser zufrieden an der Sonne, freiwillig zusammengerückt auf ihrem Hügelchen. Ein paar hundert Menschen, die es laut den Szenarien der Bundesstatistiker gar nicht mehr geben dürfte: Sie sind fruchtbar und mehren sich, als hätten sie es in ihrer Hand, die vergreisende Schweiz zu retten.

Zürisee im Winter Kleiner Hüpfer Zürisee im Winter Kleiner Hüpfer Kleiner Hüpfer Zürisee im Winter Kleiner Hüpfer Kleiner Hüpfer Zürisee im Winter Kleiner Hüpfer Kleiner Hüpfer Zürisee im Winter Kleiner Hüpfer Kleiner Hüpfer