Nicole Althaus
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Ashkenazy
beyond 9/2009
Text: Nicole Althaus
Foto: Decca/Sasha Gusov
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«Ich habe beim üben nie auf die Uhr geschaut»

In einem seiner seltenen Interviews spricht der weltberühmte Dirigent Vladimir Ashkenazy mit uns über das Thema Zeit. Und über die Gründe, weshalb er in der Schweiz lebt.

Vladimir Ashkenazy, wieviele Stunden sitzen Sie heute noch am Klavier?

Zwei, manchmal drei pro Tag.  Als ich vor 30 Jahren mit Dirigieren begonnen habe, musste ich mir meine Zeit neu einteilen. Als Konzertpianist habe ich deutlich mehr geübt. Allerdings habe ich auch damals nie nach Stundenplan gespielt oder beim Musizieren auf die Uhr geschaut. Ich bin einfach so lange am Piano gesessen, bis ich musikalisch erreicht habe, was ich erreichen wollte.

Gibt es ein Ziel, das Sie noch nicht erreicht haben?

Nein. Mein Leben als Pianist und Dirigent, als Vater von fünf Kindern und seit 45 Jahren an der Seite meiner Frau ist so erfüllt und reich, dass es anmassend wäre, von etwas zu träumen, das noch darüber hinausgeht.

Hat sich ihr Zugang zur Musik mit dem Alter verändert?

Natürlich. Die Erfahrungen, die Informationen, die mit jedem Jahr dazukommen, verändern den Zugang zu jeder künstlerischen Tätigkeit. Auch zur Musik. Die Frische aber, mit der Musik auf mich einwirkt, hat nichts eingebüsst. Ich erlebe ein Stück auch heute noch so intensiv, wie damals als ich es zum ersten Mal gehört habe.

Wann haben Sie ihre Leidenschaft für das Piano entdeckt?

Ich war verhältnismässig alt, als ich anfing Klavier zu spielen. Ich war sechs.

Trotzdem haben Sie Weltruhm erlangt. Waren Sie zielstrebiger als andere?

Nein. Persönlich habe ich nie eine Karriere angestrebt. Sie war plötzlich da. Meine Begabung war vielleicht grösser, als die meiner Mitstudenten, nicht aber meine Ambitionen. Das Leben entscheidet selber, wer wann an die Oberfläche kommt.

Vorausgesetzt eine Begabung wird entdeckt und gefördert.

Genau. Ich schätze mich noch heute sehr glücklich, dass ich einen Platz in der Zentralen Musikschule in Moskau bekommen habe. Sie war eine Insel der Vernunft mitten in einem Klima des Wahnsinns. Dort bin ich auf Lehrer gestossen, die an mich geglaubt und mich angespornt haben. Wenn einem als Kind versichert wird, dass man am Piano etwas zu offerieren hat, dann will man auch beweisen, dass das stimmt. Trotzdem: Selbst nach den ersten Preisen an internationalen Wettbewerben, hätte ich nie zu träumen gewagt, dereinst vor Weltorchestern zu stehen.   

 Was hat Sie ans Dirigentenpult gezogen?

Das Piano ist mein Instrument. Das Orchester aber ist meine erste Liebe. Schon als Kind hinterliess der Klang aus dem Orchestergraben im Bolschojtheater tiefe Spuren in mir. Ich war fasziniert von Partituren. Als ich als knapp 19-Jähriger nach Brüssel reiste und am Concours Reine Elisabeth den ersten Preis gewann, kaufte ich als erstes einen Koffer voller Partituren von Debussy, Strauss und anderen Komponisten, die in Moskau fast nie gespielt wurden. Es war unumgänglich, dass ich angefangen habe zu dirigieren. Und als die Chance Anfang der 70-iger Jahre kam, habe ich zugegriffen.

Hat der erste Besuch im Westen auch sonst einen bleibenden Eindruck hinterlassen?

Viel gesehen habe ich damals nicht. Dazu hatte ich auch keine Gelegenheit. Schliesslich sass ich die ganze Zeit am Piano, und kam kaum vor die Tür. Sofort aufgefallen und in Erinnerung geblieben aber war mir, wie frei und ungezwungen die anderen Wettbewerbteilnehmer dachten und sprachen.

Fühlten Sie sich als Musiker in Russland eingeschränkt?

Damals  hatte ich keine Ahnung, wie das Leben im Westen aussah. Ich kannte nichts anderes, als die Welt, in der ich lebte. Heute müsste ich ein Buch darüber schreiben, wie es war im kommunistischen Russland aufzuwachsen, um mich wirklich genau auszudrücken. In wenigen Worten kann ich nur sagen: Als Musiker genoss ich viele Privilegien. Darunter das zu reisen. Die sowjetischen Behörden wollten der Welt zeigen, was sie für Talente hervorbrachte. Aber auch ich musste mich an den vorgepfadeten Weg halten. Jede kleinste Abweichung hatte unangenehme Konsequenzen.

Sie sind 1963 nach England emigriert und leben seit vielen Jahren in der Schweiz, warum gerade hier?

Ich verstehe mich als Europäer und fühle mich da zu Hause, wo meine Familie lebt. Jahrelang habe ich in Island gelebt, dem Heimatland meiner Frau. Es hat mir da auch sehr gefallen. Wegen meiner vielen Reisen haben wir 1978 aber beschlossen ins Herz von Europa zu ziehen. Die Schweiz ist ein wunderbares Land. Ganz besonders schätze ich ihre Multikulturalität und den Respekt der Menschen hier für die Natur und für mein Bedürfnis nach Ruhe.

Kommt es vor, dass Sie über der Musik  die Zeit vergessen?

„Vergessen“ ist das falsche Wort. Natürlich nimmt die Musik einen grossen Teil meiner Zeit ein. Das ist genau das, was ich will. Denn Musik erfüllt mich rund um die Uhr. Aber ich habe immer noch genug Musse für meine Familie, ich lese viel und fahre gern an die Berge oder ans Meer.





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