Nicole Althaus
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Stillzwang Weltwohe
Weltwoche 48/2009
Text: Nicole Althaus
Illustration: Kat Menschik
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Kreuzzug im Namen der Muttermilch

Wer liebt, der stillt. Das ist das Credo moderner Mütter. Wer seinem Kind nicht die Brust gibt, wird aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Neueste wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass die positiven Auswirkungen des Stillens überschätzt werden.

Meine Exkommunikation aus der Gemeinschaft der Vorzeigemütter erfolgte drei Monate nach der Geburt meiner zweiten Tochter. Ich hatte zuerst eine Tablette geschluckt, um den Milchfluss zu stoppen, danach eine Schlafpille eingeworfen und mich für eine ganze wunderbar lange Nacht ins Bett verzogen. Am nächsten Morgen klaubte ich, zum ersten Mal seit Monaten ausgeschlafen, die Flasche aus der Tasche statt die Brust aus der Bluse und beichtete den anwesenden Müttern auf dem Spielplatz eines Zürcher Gemeinschaftszentrums den Grund meiner guten Laune. Das war ein Fehler. Ich hätte meinem Baby genauso gut zerdrückte Chicken McNuggets füttern können, die Reaktionen wären kaum heftiger ausgefallen: Von blankem Entsetzen («Was unternimmst du jetzt gegen die Allergien?») über offenkundiges Mitleid («Das arme Würmchen») bis hin zu versteckter Eifersucht («Kein Wunder, siehst du so erholt aus») erntete ich alles ausser Verständnis.

Eigentlich hätte ich das wissen müssen. Schliesslich gestaltete sich schon die Beschaffung besagten Abstillmedikaments als veritabler Gang nach Canossa: Erst redete mir die Mütterberaterin, die ich um Entwöhnungstipps bat, inbrünstig ins Gewissen. Dann nahm mich die Stillberaterin zur Brust und versuchte, mich vom Griff zur Flasche abzubringen. Erst die Frauenärztin liess den Wunsch «Ich will abstillen» gelten, ohne dass ich ihn mit einer drohenden Depression oder akuten Ehekrise dramatisieren musste.

Garant für Geborgenheit und Intelligenz

Ein Bussgang wegen ein bisschen Milch – das mag lächerlich klingen, ist aber bloss folgerichtig: Muttermilch ist nämlich längst nicht mehr bloss ein gesundes Nahrungsmittel für Babys. Sie ist im neuen Jahrtausend zum Heilsbringer hochstilisiert worden: ein Supercocktail gegen Allergien, Diabetes, Übergewicht, Krebs. Und damit nicht genug. Seit die amerikanischen Kinderärzte Marshall Klaus und John Kennell zu Beginn der achtziger Jahre ein völlig neues Bild der Mutter-Kind-Beziehung entworfen haben, die vorab durch das Bonding kurz nach der Geburt geprägt wird, liegt auch das Seelenheil des Kindes in der Muttermilch. Stillen ist nicht mehr nur einfach gesund, sondern Garant für Geborgenheit, Nestwärme und gar Intelligenz. Auch wenn einige Vorzüge wissenschaftlich längst in Frage gestellt worden sind, gilt heute das Credo: Wer liebt, der stillt. Laut WHO im Minimum ein halbes Jahr.

Über die Vorzüge des Stillens wird heute so dogmatisch debattiert wie über Nikotinkonsum oder Übergewicht. «Gesundheit ist zu einer Methode geworden, neue Vorstellungen von Gut und Böse zu etablieren», sagt Frank Furedi, Professor an der Universität Kent. Nur so, glaubt der britische Soziologe, lasse sich der «moralische Kreuzzug im Namen des Stillens» erklären.

Dass der Akt des Brustgebens heute zur moralischen Verpflichtung geworden ist, der sich kaum eine Mutter mehr zu entziehen wagt, findet Claudia Fuhrer Hauser kontraproduktiv. Die Präsidentin des Berufsverbandes der Schweizerischen Stillberaterinnen hat zwar ihre eigenen Kinder volle zwei Jahre gestillt. Aber sie will das nicht zur Regel erheben: «Ich werte nicht, sondern informiere die Frauen übers Stillen und begleite sie, ob sie sich nun dafür oder dagegen entscheiden.» Dass die wertfreie Information nicht jeder Beraterin gelingt, ist ihr auch schon zu Ohren gekommen. Sie bedauert das, gibt aber zu bedenken: «Hätten sich die Befürworter nicht so stark reingekniet, wären wir heute nicht da, wo wir sind.» Mit «da» meint sie die geradezu flächendeckende Anfangsstillquote in der Schweiz. Laut Unicef füttern hierzulande 94 Prozent aller Mütter nach dem Wochenbett ihr Baby mit Muttermilch. Ein Rekord.

Westliches Zeitgeistphänomen

In der Vergangenheit war Stillen mitnichten selbstverständlich. Blutende Brustwarzen, Milchstau und Mastitis sind keine neuzeitlichen Zivilisationserscheinungen, sondern plagten die Mütter schon im Altertum, wie eine Fülle von überlieferten Hausmittelchen beweist. Bereits im alten Rom heuerten bessergestellte Frauen Ammen an. Eine Mode, die sich in den gehobenen Ständen in ganz Europa durchsetzte, ab dem 17. Jahrhundert auch im Bürgertum. Mit der Industrialisierung verabschiedeten sich auch die Frauen der Arbeiterschicht vom Stillen. Wer tagsüber in der Fabrik schuftete und abends noch am offenen Feuer die Familie bekochen musste, hatte keine Musse, alle paar Stunden ein Baby anzusetzen.

Stillen war in der westlichen Welt offenbar schon immer mehr Zeitgeistphänomen als Selbstverständlichkeit: Nach dem Zweiten Weltkrieg galt es als chic, den Schoppen zu geben. Pulvermilch war ein Zeichen des Fortschritts und wurde Ende der sechziger Jahre gar zum Symbol des Widerstandes: Der aufkommende Feminismus sah im Stillen ein patriarchales Instrument der Unterdrückung. Doch fast gleichzeitig legten die ersten wissenschaftlichen Nachweise von Abwehrstoffen in der Muttermilch die Grundlage für den Stillboom. Und als Mitte der siebziger Jahre durch den Nestlé-Skandal das Image des Milchpulvers einen Totalschaden erlitt, gelang es der La Leche League (LLL), das Stillen als «die natürlichste Sache der Welt» zu etablieren.

Gegründet wurde die heute einflussreichste Stilllobby 1956 von sieben amerikanischen Hausfrauen. Die engagierten Mütter rebellierten gegen die fortschreitende Medizinierung des Wochenbettes und beschlossen, mit der Gründung von privaten Stillgruppen den Frauen die Macht über ihren Körper zurückzugeben. Die Botschaft traf den Zeitgeist der «Mein Bauch gehört mir»-Welle. Stillen wurde zum Politikum: 1981 verabschiedete die WHO einen internationalen Verhaltenskodex, der Herstellern von Babynahrung eine Reihe von Vermarktungsstrategien verbot. Seit 1992 zeichnet das Kinderhilfswerk Unicef «stillfreundliche» Spitäler aus und lancierte mehrere Stillkampagnen.

Heute wird in jeder Arztpraxis und in jedem Bioladen fürs Stillen geworben. Jedes Kind hat die «Breast is best»-Lektion gelernt. Die LLL sieht das offenbar anders. Auf ihrer Website hält die Schweizer Sektion fest, dass die «unausgesprochene Norm in den Köpfen der meisten Menschen, in Werbung und Medien noch immer das Füttern mit der Flasche» sei. Sind 95 Prozent stillwillige Mütter also noch nicht genug? «Solche Zahlen sind für das Stillen nicht förderlich», sagt die PR-Beauftragte Claudia Deuber-Gasser. «Die LLL strebt das Stillen ohne Vorgaben an.» Vom Stilltotalitarismus, welcher der Non-Profit-Organisation gerne nachgesagt wird, distanziert sie sich mit den Worten: «Die LLL betreibt individuelle Stillförderung. Sie begleitet und unterstützt Frauen seit mehr als einem halben Jahrhundert auf deren eigenen Wunsch.» Das allerdings mit einem durchaus doktrinären Gedankengut. Auf die Frage, ob ein Kind das Recht auf Muttermilch habe, antwortet die Sprecherin: «Man könnte sich das tatsächlich fragen. Schliesslich bildet Stillen Studien zufolge eine einzigartige biologische, emotionale und ökologische Grundlage für die Gesundheit der Mutter und des Kindes.»

Die zehn Gebote der Unicef

Tatsächlich hat die Angst, das Baby mit dem Fläschchen nicht optimal für die Zukunft zu rüsten, die jahrhundertealte sozioökonomische Realität des Stillens innert Kürze verändert: Heute stillt nicht mehr die Frau, die keine andere Wahl hat, sondern diejenige, die es sich leisten kann. Stillen ist zum Wohlstandsphänomen und ultimativen Ticket in den Klub der Vorzeigemütter geworden. Wichtiger noch als die Kleidergrösse 36 post partum. Bei einer Befragung von nichtstillenden Müttern an der Universität Kent hat Soziologe Furedi 2005 festgestellt, dass jede Dritte sich als Versagerin wahrnimmt und Schuldgefühle äussert.

Wer einmal versucht hat, sein Neugeborenes im Spital mit dem Nuggi zu beruhigen, weiss warum. Der Einsatz eines Plastiknippels genügt nämlich, um den herrschenden Stillterror am eigenen Leib zu spüren zu bekommen. Wollen Geburtskliniken mit dem Zertifikat «stillfreundlich» um Gebärende buhlen, müssen sie den Unicef-Stillkodex einhalten, eine Art zehn Gebote. Das neunte lautet: «Saughütchen, Saugflaschen und Schnuller werden in den ersten Tagen nach der Geburt vermieden.» Natürlich könnte die Wöchnerin das neunte Gebot brechen. Aber welche Mutter hat nach den Strapazen einer Geburt noch die Kraft, zuerst mit der Nachtschwester, dann mit Hebamme und Stillberaterin über die «Verwirrung des kindlichen Saugreflexes» zu streiten? Sie will einfach ihre Ruhe. Und so kommt es, dass94 Prozent der Mütter im Wochenbett mehr oder weniger freiwillig mit ihren Brüsten beschäftigt sind. Genauer: mit den funktionellen Aspekten ihrer Brüste. Die erotischen wurden vom Milcheinschuss längst ertränkt.

Immerhin war ich nach der Geburt des zweiten Kindes abgebrüht genug, den Schnuller unter der Bettdecke zu verstecken, um mir eine Wiederholung der Lektionen zu ersparen. In der gewonnenen Zeit surfte ich im Netz und suchte nach handfesten Strategien, um mich gegen die Still-Cheerleader zu verteidigen. Kein einfaches Unterfangen in Zeiten des weltweiten «Breast is best»-Kultes.

Erst 2005, als meine Tochter längst abgestillt war, stiess ich auf das geradezu ketzerische Fazit einer Geschwisterstudie im amerikanischen Health Services Research-Journal: «Die Langzeiteffekte des Stillens wurden überschätzt.» Die Ökonomen Eirik Evenhouse und Siobhan Reilly hatten die Diabetes-, Asthma- und Allergie-Raten sowie die Intelligenz von Geschwistern verglichen, von denen das eine gestillt, das andere mit dem Fläschchen grossgezogen wurde.

Die Unterschiede waren statistisch irrelevant. Damit rüttelten die Wissenschaftler am Fundament der meisten Stillstudien. Diese basierten nämlich bis dato nicht auf zwei sozioökonomisch und ethisch gleich zusammengesetzten Müttergruppen, von denen die eine stillte und die andere mit dem Fläschchen fütterte, sondern auf blossen Beobachtungen. Fakt ist: Frauen, die stillen, sind in der Regel besser ausgebildet und leben gesünder. Sind ihre Babys gesünder und intelligenter als «Flaschenkinder», ist das, so die Autoren, nicht einfach das Verdienst der Muttermilch.

Tatsächlich haben Wissenschaftler mittels kontrollierter Versuchsanlagen in den letzten Jahren mehrere vermeintliche Vorzüge der Muttermilch in Frage gestellt. Darunter ihr positiver Einfluss auf die Intelligenz und der vielzitierte Allergieschutz: Laut dem aktuellen Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse gibt es keine Evidenz, dass eine mehr als viermonatige Stillzeit präventiv wirkt.