Nicole Althaus
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Depp vom Dienst – Annabelle 05/2008
Annabelle 05/2008 
Text: Nicole Althaus, Barbara Klingbacher
Illustrationen: Nicholas Dewar
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Depp vom Dienst

Glaubt man den Bestsellern auf dem Büchermarkt, dann sitzen ausschliesslich Idioten, Neurotiker und Narzissten auf dem Chefsessel. Noch nicht zur Sache befragt wurden einzig: Die Angeklagten. Bis jetzt. Ein Stimmungsbericht aus der Chefetage.

Fast jeden Morgen fragt sich Reto Mels * (45), «wie ein guter Chef sein soll». Und versucht dann den ganzen Tag so ein Chef zu sein. Er lässt sich also nichts anmerken, wenn in der Mailflut um 7.30 Uhr Überstunden für die Kommunikationsabteilung der Verwaltung, die er leitet, angekündigt werden. Stattdessen sagt er sein Date am Abend ab, um wenigstens einen Teil des Tagespensums nicht auf die Mitarbeiterschultern laden zu müssen, und grüsst die neun Menschen freundlich, die nach 8 Uhr ins Grossraumbüro in Bern tröpfeln. Vor der Sitzung erkundigt er sich bei jedem Einzelnen nach den Pendenzen, versucht abzuschätzen, wem er Zusatzarbeit zumuten kann. In der Sitzung delegiert er, was er nicht allein schaffen kann, bedankt sich für den geforderten Extraeinsatz und bittet den Arbeitskollegen, der die ganze Zeit so wortkarg vor sich hingestarrt hat, zu einem Kaffee.

Zuhören, loben, motivieren, kritisieren, delegieren, fördern und fordern. Reto Mels kennt die Gebote des Führens und gibt sich, wie er sagt, «ehrlich Mühe, dass sie keine Worthülsen bleiben». Er verkörpere wohl am ehesten den Cheftypus des «Machtmenschen» und verfüge durchaus über eine natürliche Autorität. Aber manchmal, sagt der Mann und legt seine Krawatte ab, scheitere er einfach. «Es gibt Tage, da erledige ich schwierige Fälle, die ich als Lehrstück delegieren müsste, lieber selber, um mir das Nachbessern zu ersparen. Natürlich fehlt dann die Zeit für die Probleme des Teams. Und Probleme gibt es ständig. Wenn sich dann noch zwei krankmelden, passiert es schon, dass mir am Telefon rausrutscht: ‹Gute Besserung. Wann kann ich wieder mit dir rechnen? › So etwas sagt der Chef nicht, der ich am Morgen sein wollte. »

Reto Mels benimmt sich nicht wie eines dieser «Arschlöcher», die in der einschlägigen «Chefliteratur» beschrieben werden. Er spricht lieber über die Fähigkeiten seiner Teammitglieder als über ihre Fehler. Die gröbste Kritik, die ihm über die Lippen kommt, ist, dass seine Untergebenen ihn «mit Kleinigkeiten belästigen». «Manchmal», schiebt er sofort nach. Trotzdem geht er davon aus, dass sein Team ebenfalls wenig schmeichelhafte Ausdrücke benutzt, wenn es über ihn ablästert. «Der schwarze Peter ist fester Bestandteil des Chefjobs. »

Gelästert wird tatsächlich ausgiebig im Büro. Glaubt man einer «Stern online»-Studie, dann ziehen Angestellte im Durchschnitt vier Stunden pro Woche bezahlt über ihre Vorgesetzten her. Über den Grund sind sich die Experten einig: Die Mitarbeiter-Chef-Beziehung ist für die Arbeitszufriedenheit wichtiger als Lohn oder Arbeitsinhalt. Entsprechend viel Platz nimmt das Thema Chef auf dem Ratgeberbuchmarkt ein. Amazon.de führt über 500 Titel. Meist ist die Sprache nicht die gepflegteste: «Chefs und andere Idioten» titeln sie etwa oder «Mein Chef ist ein Arschloch, Ihrer auch? ». Und immer ist der Arbeitsplatz ein Krisengebiet, der Boss ein Versager.

Die Chefs aber kommen auf dem Buchmarkt nie zu Wort. Und wenn Fachleute öffentlich über Führung diskutieren, klingt das wie das «Wort zum Sonntag». Von «partizipativem Führen» ist dann die Rede, von «Zielvereinbarung» und «Mitarbeiterförderung». Doch wie diese Schlagworte umzusetzen sind im Büroalltag, in dem durchaus auch idiotische, renitente und inkompetente Mitarbeiter vorkommen und wo der Erfolg letztlich in Zahlen gemessen wird, davon spricht niemand. Und so zerreibt sich manch ein Chef zwischen den extremen Erwartungen von oben und unten. Als ich noch nicht führte, war ich ein viel netterer Mensch», sagt Sarah Wenner *, Leitende Redaktorin einer grösseren Kundenzeitschrift. Mit knapp vierzig übernahm sie die Leitung des zehnköpfigen Teams, dem sie zuvor angehört und mit dem sie gern ausgiebig über den vorherigen Chef gelästert hatte. «Natürlich wussten wir immer, wie man den Chefjob besser machen müsste, wie man motivieren sollte und wie viel mehr Lohn wir verdient hätten», sagt sie. Als sie dann tatsächlich alles hätte besser machen können, sah sie sich mit anderen Zwängen konfrontiert. Denn Chefs haben ja in der Regel auch wieder Chefs. Und dort zerschellten die kollektiven Hoffnungen auf Lohnerhöhungen.

Sarah Wenner blieb nur das Kommunizieren der schlechten Nachricht – und die Enttäuschung des Teams, dass eben doch vieles beim Alten bleibt. Auch die Beziehung zu den Arbeitskollegen hat sich verändert. «Für einen netten Kaffeeplausch fehlt mir heute meist die Zeit», sagt Sarah Wenner in ihrem Einzelbüro in Basel. «Wenn ich sie mir doch nehme, höre ich oft gestresst zu und denke dabei an die Arbeit, die sich auf dem Schreibtisch stapelt. » Daran ist sie zum Teil selber schuld. Denn statt einen missratenen Text zur Verbesserung zurückzugeben, schreibt sie ihn oft selber um, weil «es mehr Zeit kosten würde zu erklären, zu warten, bis der umgeschriebene Text kommt, es nochmals zu erklären, nochmals zu warten und dann doch noch umzuschreiben». Sie sei im Chefjob zur «Atemlosen» geworden, sagt sie nach einem Blick auf die Cheftypologie, gezwungenermassen, denn alle zwei, drei Minuten stehe irgendjemand in ihrem Büro, mit einer Frage, einem Anliegen, einer Information. «Wenn dann einer kommt, um mir zu sagen, er sei jetzt rasch fünf Minuten weg, um etwas einzukaufen, vielleicht dauere es auch zehn Minuten, dann frage ich mich schon: Muss ich das jetzt wissen? » Grundsätzlich steht die Tür zu ihrem Büro immer offen. Zu offen vielleicht: «Die Leute verlassen sich gern darauf, dass ich ihnen für jedes Problem eine Lösung zeige. Wenn mir nicht gleich was einfällt, sage ich oft: Ich denk mal darüber nach, wie man das machen könnte. Daraufhin gehen sie erleichtert und beschwingt aus meinem Büro. Ihr Problem aber bleibt auf meinem Schreibtisch liegen. Und belastet nun stattdessen mich. »

Chef zu sein, ist nicht per se ein Traumjob. Oft lohnt sich ein Aufstieg nicht einmal finanziell: Eine Studie der Universität Zürich beweist, dass mit steigender Zahl von Untergebenen die Arbeitszeit zunimmt, nicht aber der Stundenlohn: Ob 5 oder 45 Mitarbeiter zu führen sind, schlägt sich im Lohn nicht nieder. Denn jeder zusätzliche Untergebene erhöht zwar die Macht, aber auch die «freiwillig» geleisteten Überstunden. Der Blutdruck steigt dann sehr viel schneller als das Gehalt.

Das ist der Grund, warum Brigitte Finner * (36), Geschäftsleiterin und Partnerin einer Luzerner Kommunikationsagentur, lieber einen Auftrag ablehnt, als eine zusätzliche Mitarbeiterin in das Sechserteam aufzunehmen. «Wenn man ein guter Chef sein will, kostet jeder Untergebene viel persönliches Investment und unzählige Arbeitsstunden, die niemand zur Kenntnis nimmt. Deshalb versuche ich, mein Team klein zu halten, und arbeite, wann immer möglich, mit Freelancern zusammen. Für deren Wohlbefinden bin ich nicht zuständig, für das des Teams aber schon. »

Brigitte Finner sitzt in Jeans und schwarzem Blazer im kleinen Sitzungszimmer ihrer Agentur vor einem leeren Schreibblock, zündet sich eine Zigarette an und sagt: «Zu Beginn meiner Karriere hatte ich noch die Illusion, dass meine Mitarbeiter genauso motiviert sind wie ich. Dass sie an der Firmenstrategie mitarbeiten wollen und an Kundenaquisition interessiert sind. Etwas anderes konnte ich mir gar nicht vorstellen. Ich wurde eines Besseren belehrt. Viele Angestellte fordern zwar hohe Transparenz, sind aber nur bedingt bereit, mitzutragen und mitzudenken. Heute informiere ich deshalb nicht mehr so offensiv wie früher. »

Das Schwierigste aber am Chefsein, sagt Finner, sei der Konflikt zwischen Menschlichem und Geschäftlichem. Da warte der Chefjob immer mal wieder mit schlaflosen Nächten auf. Trage ein Mitarbeiter etwa psychische Probleme in die Firma, könne und müsse man das als Chefin eine Weile mittragen. «Irgendwann aber kann man sich als Boss sein grosses Herz nicht mehr leisten. »

Sind es also die Umstände, welche Chefs zu unbarmherzigen Leithammeln, zu profitgesteuerten Egomanen machen? Tatsache ist: Wer Mitarbeiter nur als Opfer wahrnimmt, erkennt nur die halbe Wahrheit, sagt Sozialwissenschafter Stefan Blankerz in seinem Buch «Wenn der Chef das Problem ist». Wenn ein Chef und ein Mitarbeiter zusammenträfen, sei das wie bei einer chemischen Reaktion. «Was dabei herauskommt, hängt von den Eigenschaften beider ab. » Denn nicht nur die Chefs sind manchmal ungeduldig, unfähig, unehrlich – die Typologie, die etwa Margit Schönberger in ihrem Buch «Mein Chef ist ein Arschloch» aufstellt (siehe unten), lässt sich genauso gut auf Mitarbeiter anwenden. Auch dort gibt es Taktierer, Blender und Feiglinge – die es (noch) nicht auf den Chefsessel geschafft haben. Die Perspektive ist entscheidend: Marianne Schmid Mast, Professorin für Arbeitspsychologie an der Uni Freiburg, glaubt, dass das Lästern nicht primär mit der Leistung des Chefs zu tun hat, sondern mit den Erwartungen an die Führungsperson, die nicht immer gerechtfertigt seien. Die Erwartung etwa, dass ein Vorgesetzter mit den Mitarbeitern alle Entscheide bespricht, sei falsch. Wenn die Entscheidungskompetenz klar beim Chef angesiedelt sei, würden «pseudodemokratische» Diskussionen an Sitzungen oft zu unbefriedigender Zeitverschwendung für beide Seiten. «Manchmal», sagt Schmid, «ist weniger Demokratie und mehr Hierarchie ökonomisch sinnvoller. »

Und manche Mitarbeiter wollen sowieso lieber lästern als mitbestimmen. Was hat sich Aretta Neuber * schon darüber geärgert. «Früher», sagt sie, «habe ich den Fehler gemacht, Schweigen als Zustimmung zu interpretieren. » Zum Beispiel in Sitzungen, in denen es um Entscheidungen geht. Sie wollte nicht von oben herab die Richtung diktieren, sondern tatsächlich im Team zu einer Entscheidung kommen. «Drei, vier haben dann etwas gesagt, die anderen nicht. Aber sie waren überhaupt nicht einverstanden, sondern haben nur die Faust im Sack gemacht, sind hinterher rausgegangen und haben gesagt: Die haben wieder so etwas Blödes entschieden. Als wären sie nicht die ganze Zeit dabei gewesen! » Heute schaut Aretta Neuber bei solchen Sitzungen jeden Einzelnen an und fragt: Kannst du damit leben, stehst du dahinter?

Die quirlige Managerin, die auch schon über 2000 Leute führte, hat ihre eigenen Theorien entwickelt. Sie schickt ihre Leute zwar in Führungsseminare – selber hat sie aber nie eins besucht. Das Wichtigste habe sie mit den Jahren im Job gelernt, sagt sie im Konferenzzimmer ihres Industrieunternehmens mit Sitz in der Zürcher Agglomeration. Zum Beispiel, dass man Leute nicht ändern kann. Mit dreissig glaubte sie das noch. Wenn jüngere Vorgesetzte aber heute verzweifelt ihren Rat suchen, weil ein Mitarbeiter undiszipliniert ist oder schlicht lustlos, dann sagt sie: Es gibt nur zwei Möglichkeiten – entweder du nutzt seine Vorzüge und schaust über das andere hinweg. Oder du musst ihn entlassen. Ein klarer Schnitt sei manchmal die bessere Lösung. Denn: «Ein fauler Apfel kann den ganzen Obstkorb verderben», sagt Aretta Neuber. «Zuerst versucht man zu integrieren, was heisst, man gibt mehr Zuwendung und Aufmerksamkeit – da werden die andern bereits eifersüchtig. Und noch schlimmer: So jemand steckt die andern an. Plötzlich hat es in einem eigentlich guten Team vier, fünf Leute, die nur noch jammern, alles schlecht finden und trotzdem jahrelang in der Firma sitzen bleiben. »

Aretta Neuber ist nicht die knallharte Managerin, wie ein solches Statement vermuten lässt. Sie redet mit viel Zuneigung über ihre Mitarbeiter und hält Spass für einen wichtigen Erfolgsfaktor. Wenn sie tatsächlich eine Dossier (SMD-Bestand) - Peter Ackermann - 24.11.09 34 Kündigung aussprechen muss, nach langer Überlegung und schlaflosen Nächten, ist das immer noch «etwas vom Schlimmsten, vielleicht das Schlimmste überhaupt. Dann wünsch ich mir jeweils, ich wäre eine Putzfrau. » Ihre zweite Theorie: Man kriegt nie 100 Prozent gute Mitarbeiter zusammen. 90 Prozent seien fantastisch. Und 10 Prozent machen Sorgen. «Das Blöde ist: Mit denen hat man am meisten zu tun, in die steckt man am meisten Zeit. Und selbst wenn man sich von denen trennt, wachsen wieder 10 Prozent nach. » Sorgen machen ihr zum Beispiel Leute, die viel verdienen, aber jede Minute abrechnen wollen. Die das Geld der Firma mit vollen Händen zum Fenster rausschmeissen, Fünfsternehotels, teure Anschaffungen, und glauben, sie hätten ein Recht dazu. Oder ganz schlimm jene, die betrügen, illegale Geschäfte laufen haben oder einfach bei den Spesen mogeln. «Sie verdienen ein Riesengehalt und erschummeln sich 100 Franken. Das verstehe ich einfach nicht. »

Am meisten aber hasst Aretta Neuber Lügen und Vertuschungsversuche. Dagegen ist sie allergisch. Wenn man einen Fehler gemacht habe, solle man es sagen. «Nur so kann ich heraushelfen. » Fehler seien schliesslich nichts Tragisches, solange man nicht dauernd die gleichen begehe. Aber gerade bei der Fehlerkultur liege eines der grössten Missverhältnisse zwischen Chefs und Untergebenen. Denn macht der Chef einen Fehler, wird gedreht, betrachtet, gelästert, alles im Versteckten, manchmal über Jahre. «Da frage ich mich jeweils: Bin ich Gott? », sagt Aretta Neuber. «Ich habe auch das Recht, Fehler zu machen und dass sie mir verziehen werden. »

So viel steht fest: Chef sein ist nicht damit getan, immer das letzte Wort zu haben. Nur für das, worauf es wirklich ankommt, dafür ist man eigentlich nicht ausgebildet worden. Bis heute fehlt es an einer geregelten Ausbildung für Manager. Man macht Karriere, weil man Expertin ist für Buchhaltung, Statistik oder Mikroorganismen – aber nicht fürs Führen von Menschen. Selten erweise sich eine exzellente Fachkraft auch als herausragende Führungskraft, schreibt Kommunikationstrainer Martin Wehrle in seinem Buch «Der Feind in meinem Büro. Die grossen und kleinen Irrtümer zwischen Chef und Mitarbeiter». Zum Beispiel zeichne sich ein Laborchemiker durch nüchterne Sachlichkeit aus, lasse sich von anderen Menschen nicht ablenken und verliere kein Detail aus den Augen. Steige er auf, so Martin Wehrle, sei plötzlich Emotionalität gefragt, könne er Mitarbeiter nicht als Ablenkung betrachten und müsse sich statt um Details plötzlich um die grosse Flugrichtung kümmern. Turbulenzen sind programmiert. Heute sind je nach Branche 5 bis 15 Prozent der Beschäftigten in Führungsfunktionen tätig. Der Managementberater Fredmund Malik spricht gar von einem «Massenberuf ohne Ausbildung».

Manchmal bin ich wohl eine unsympathische Chefin, allen Führungskursen zum Trotz», sagt Luzia Bernegger * (43), die als Leiterin Risk Control die so genannte Glasdecke durchstossen hat und nur noch dem Vorsitzenden der Geschäftsleitung (CEO) unterstellt ist. «Ich bin auch schon laut geworden, weil ich mich überfordert fühlte, habe meinem Team wohl nur unklar zu verstehen gegeben, wie ich die Arbeit effizienter und strukturierter erledigen würde. Und das, ohne ein Lob vorauszuschicken. » Luzia Bernegger dreht sich eine Gabel Spaghetti auf und fügt dezidiert an: «Eines ist klar: Seit ich selber das Sagen habe, verstehe ich die Unzulänglichkeiten meiner früheren Chefs um einiges besser. » 

Es ist Freitagabend, halb zehn. Direkt aus dem Büro ist die Bankfrau zum Treffpunkt gekommen, eine kleine Pizzeria auf ihrem Heimweg. Aus der Tasche blitzt ein Aktenstapel hervor. Der Feierabend des Chefs foutiert sich um Tageszeiten und Wochentage. Und Luzia Bernegger macht keinen Hehl daraus, dass sie manchmal den Job ihres Stellvertreters attraktiver findet als ihren eigenen. Wenigstens lernt man in den Führungskursen, in denen aus Mitarbeitern Instantchefs gezaubert werden, dass Überstunden zum Chefsein dazugehören. Das meiste aber lernt man erst in der Praxis. Zum Beispiel, wie man die Akzeptanz eines Teams gewinnt, dem man vor die Nase gesetzt wird. «Ich bin als neuer Chef auf ein gewachsenes Team gestossen», erzählt Luzia Bernegger, «und habe massiv unterschätzt, wie viel Zeit und Nerven jede Änderung braucht. » Natürlich könne man kommunizieren, ab sofort werde sauberer und schneller gearbeitet, aber wenn das Team nicht wolle, nütze alles Kommunizieren nichts. Dann heisse es zunächst informelle Regeln durchschauen, gewachsene Strukturen aufbrechen, mitspielen und Vertrauen gewinnen. «Der Einfluss und die Macht der Mitarbeiter wird unterschätzt. Letztlich bestimmt ein Team stark mit, wie es geführt wird. »

Anfänglich ist Luzia Bernegger aufgestiegen, weil es sich so ergeben hat. Einen klaren Karriereplan hatte sie nicht. Heute aber würde sie die Macht und Freiheiten, die damit verbunden sind, nicht mehr hergeben. Der Preis? «Man wird überproportional viel mit Unangenehmem konfrontiert, man wird härter im Nehmen und wohl auch im Austeilen», sagt die Kaderfrau ohne zu zögern. Dann denkt sie lange nach, bevor sie anfügt: «Es ist schon sehr einsam an der Spitze. Und das bisschen Zeit, das einem verbleibt, verbringt man gezwungenermassen mit Menschen, die einem im Job Rückendeckung geben können, und nicht mit dem netten Malermeister von nebenan. Denn ganz oben läuft ohne Seilschaften nichts mehr. »

Der Vorwurf von unten lautet dann: Der Chef ist berechnend und gibt sich nur mit Menschen ab, die ihm nützen. Böses Blut liesse sich denn auch vermeiden, wenn die Kommunikation zwischen Teppichetage und Mitarbeiterklasse besser funktionieren würde. Das predigen viele Experten, und das zeigte vor Jahresfrist auch eine Umfrage des Personaldienstleisters Kelly Services. Im internationalen Vergleich waren die Schweizer Vorgesetzten von einem Podestplatz weit entfernt. Im Bereich Kommunikation erhielten sie gar bloss ein Genügend. Von den 2500 befragten Schweizerinnen und Schweizern gaben nur 19 Prozent an, regelmässig für gute Leistungen gelobt zu werden. Dossier (SMD-Bestand) - Peter Ackermann - 24.11.09 35 40 Prozent bekommen dagegen nie oder fast nie eine Anerkennung für Geleistetes.

«Ich hätte mich selber gern als Mitarbeiter», sagt Stefan Hummer *. Der 45-Jährige ergatterte direkt ab der Hotelfachschule seinen ersten Führungsjob. Unterdessen ist er der Herr über ein kleines Restaurantimperium und 120 Angestellte. «Ich habe auch mal sieben Tage am Stück gearbeitet. Das findet man heute selten. » Stefan Hummer rührt in seinem Kaffee. «Ich glaube, der Antrieb war immer, Lob zu ernten. » Stefan Hummer wirkt wie ein Fels in der Brandung seines Restaurants und hat für jeden einen lockeren Spruch auf Lager. «Überhaupt, Lob», sagt er, «Loben ist die billigste Form der Personalkostensenkung. Die Leute sind zufrieden, und sie bleiben. » Allerdings sei er keinesfalls ein «Gutmensch», nein, das würde nicht funktionieren. Eher ein «Blender», im positiven Sinn: ein Strahlemann, ein Coach, der seine Mitarbeiter dazu motiviere, Lebensträume zu verkaufen. Mit einem Schuss «Machtmensch», zwar in lockerer Verpackung, aber: «Manchmal wird es zu locker, dann muss man wieder mal den Tarif durchgeben. »

Kürzlich zum Beispiel, da musste er Schlösser am Weinkeller anbringen lassen. Die Versuchung sei für manche einfach zu gross, auf dem Weg zur Garderobe ein oder zwei Flaschen einzustecken. Und manchmal halte man ihn auch für blöd: etwa der Mitarbeiter, der regelmässig zwei bis drei Tage pro Monat krank ist. Immer vor oder nach seinem Freitag. Da gabs ein Gespräch und eine Verwarnung. Seitdem habe sich die Gesundheit des Betreffenden extrem stabilisiert. «Andernfalls hätte ich ihn entlassen müssen. » Das mache ihm inzwischen nichts mehr aus, es komme ja nie ohne Vorwarnung. «Wenn jemand, sorry, eine unzuverlässige Pfeife ist, muss er gehen. Alles andere wäre den anderen Mitarbeitern gegenüber unfair. » Reden die Mitarbeiter über ihn, den Chef, lästern sie vielleicht sogar? Stefan Hummer denkt nach. Lange. Sagt, das habe er sich noch gar nie überlegt, aber: «Das würde ich ja gar nicht erfahren. Andererseits: Ich weiss, dass es sofort herumgeht, wenn ich mit dem Auto heranfahre. Achtung, heisst es dann, er kommt! » Aber lästern? Vielleicht, sagt er, das gehöre ja irgendwie mit dazu. Schlimm wäre es, wirklich unbeliebt zu sein. Dann hängt er eine Geschichte an, von einem Abendessen, nur die Mitarbeiter, zu dem sie ihn dann spontan einluden. In der Mitte des Tischs hatten sie ihm einen Platz freigehalten. «Sie freuten sich wirklich, dass ich komme», sagt Stefan Hummer. «Sie hofften nicht, dass ich nicht komme. Das ist doch ein gutes Zeichen. Oder? » * Namen von der Redaktion geändert